
Rosen, nichts als Rosen ...

Bevor ich gestern zur Bahn mußte, habe ich noch meine Mail abgeholt und darunter auch eine
Einladung in einen Tagebuch-Webring gefunden. Ich gehöre aber nicht zu den Leuten, die ein Tagebuch
führen. Weder online, noch offline.
Ich habe einige Tagebücher begonnen - die Zeit in Australien habe ich sogar durchgehalten - aber
alle anderen Bücher habe ich immer nur begonnen und nach kurzer Zeit vernachlässigt.
Entweder verlief mein Leben zu langweilig und ich wußte nicht, worüber ich schreiben sollte,
oder aber es war soviel los, daß ich ganz sicher keine Zeit hatte, darüber zu schreiben.
Oder aber, ich wußte nicht, was ich von den Ereignissen halten sollte und ich bin einfach nicht der
Typ, der Dinge gerne festnagelt.
Wenn man etwas niedergeschrieben hat, neigt es dazu, steif zu werden, statt zu fliessen.
Wenn ich auf jemanden wütend bin, warte ich gerne ab, daß ich mich wieder beruhige - man
kennt sich selbst und seine Gefühle doch soweit um zu wissen, daß man nichts an die Wand
nageln kann.
Man nehme den Satz:
ich bin glücklich verheiratet
Ganz ehrlich, der funktioniert nur dann wirklich gut, wenn er gerade nicht da ist, oder?
An einem einzigen Tag können die ehefraulichen Gedanken über ihre Ehe in geradezu erschütternden
Bandbreiten schwanken ... Da nützt kein Tagebuch, sondern eine beste Freundin, die Kaffee kocht,
zuhört, zustimmt, mitlästert, eigene Beispiele bringt ...
by the way -
natürlich bin ich glücklich verheiratet, sonst hätte ich tunlichst die
Finger von diesem Beispiel gelassen ...
Dazu kommt, daß ich eigentlich nur lustig schreiben kann - würde ich ein öffentliches
Tagebuch schreiben, müßte ich damit leben, daß einige Leute über meinen Kummer
lachen würden.
Die Sache mit den Rosen zB.
So rief mich im letzten Herbst mein Vater an. In unserer Familie sind wir wohl einzig ... es gibt
die Carola (moi)
und es gab auch
die Tante. Ich wüßte nicht, wie ich sie schildern sollte - eher gesagt,
wir wußten es nicht, als wir bei dem Pastoren saßen, der Stichpunkte für die Trauerrede
brauchte. Mein Vater betonte ihre Güte, ihre Freundlichkeit, ihre Bildung. Vor meinem geistigen
Auge entstand so eine süße rosige Marzipan-Omi, aber nicht meine Tante.
Die kam der Beschreibung etwa so nahe, wie Pocahontas dem Disney-Machwerk ...
Ich bestand also darauf, wie eigensinnig, rechthaberisch und diskutierfreudig sie immer war. Der
Tantentrick
bei Diskussionen, bestand in ganz genauen Zahlenangaben, die gelegentlich auch stimmten. Nein, meine Tante
hat nicht gelogen, niemals - sie war im Recht (immer) und um dies zu verdeutlichen, griff sie zu unserem
Besten zu exakten Zahlen. Soviel profundes Fachwissen, brachte ihre Diskussionspartner (gegner?) immer
zum Verstummen. Wer zu diesem Trick greift, sollte aber über eine breite Allgemeinbildung
verfügen, damit die Zahlen immer schön in glaubhaften Bandbreiten liegen.
Meine Tante war in den Massen selbständig und eigensinnig, die ausreichen, andere in den Wahnsinn
zu treiben. Beliebtes Hilfsmittel dabei war es,
anderen keine Umstände zu machen. Ich würde
zu gerne meine Oma fragen, wann sie anfing, alles alleine zu machen.
selber!
Und es ist diese Eigenschaft an ihr, die mich mit ihrem Tode versöhnt. 71 erscheint mir zu jung,
so unfair, daß ausgerechnet sie so früh sterben muß und
andere viel älter
werden. (dieses
andere zeigt, wie besonnen und diplomatisch ich mit den Jahren geworden bin,
denn soeben stand dort noch ein Name ...)
Das
selber begann nämlich, ihr schwer zu fallen. Kurze Strecken waren kaum noch zu bewältigen
und Freunde, Verwandte und Nachbarn begannen, sich zu
kümmern.
Eine Nachbarin berichtete mir gestern, wie oft sie meiner Tante Hilfe angeboten hatte - ich zuckte
und konnte mir vorstellen, daß meine Tante diese Hilfsbereitschaft wie Zahnschmerzen begrüsst haben
mußte.
Ein anderer Punkt war der, daß sie plötzlich (aber weiterhin sehr selten) Dinge verdrehte, verwechselte,
Worte nicht fand. Es waren lediglich Ansätze - ich meine, ich bin jemand, der schon gar nicht mehr
darüber nachdenkt, wie es passiert: wenn mein Schlüsselbund weg ist, ist er im Kühlschrank.
Der Schlüsselbund meiner Tante fand sich nie in ihrem Kühlschrank wieder - ich kann mir nicht
vorstellen, daß sie je nach dem Bund suchen mußte, so organisiert war sie.
Und jetzt plötzlich kam es zu Pausen im Nano-Sekundenbereich, bevor ihr das Geburtsdatum der
1920 verstorbenen Nachbarin ihrer Kusine einfiel (oder so).
Was ihre Wege so unendlich lang werden ließ, war eine Lungenfibrose. Sie hätte einige Ängste
weniger gehabt, wenn sie gewusst hätte, weshalb ihr Verstand gelegentlich etwas langsamer arbeitete.
Kein nahender Altersschwachsinn, sondern ihr immer schwächer werdendes Herz, das abwartete, bis sie
einschlief und dann still und heimlich zu schlagen aufhörte, war schuld gewesen.
Mag sein, daß die Herzschwäche sie einschlafen liess, aber zu meiner Tante würde es besser
passen, daß sie ihr Herz soweit im Griff hatte, daß es sich nie gewagt hätte mit dem Schlagen
aufzuhören, wenn meine Tante wach gewesen wäre.
Ich glaube, ich hatte immer einen Heiden-Respekt vor ihr und das war auch nur angemessen. Als ich klein war,
las sie mir die Geschichten um Mary Poppins vor und ich habe lange geglaubt, daß seien Geschichten
aus der Zeit, als sie noch Kindermädchen in London war.
Natürlich war sie niemals Kindermädchen in London - aber sie war Lehrerin, Elektroingenieurin und
hatte einen Doktortitel. Daß es so etwas wie einen Dr. Ing. gibt, wußte ich damals nicht,
ging also davon aus, daß sie irgendwann auch einmal Ärztin war und somit war es durchaus
auch möglich, daß sie einmal als Kindermädchen ...
Sie hinterliess einen roten Schnellhefter, ein ausgeklügeltes Testament und eine trauernde Familie.
Was bei ihrer Einstellung zur Ehe (eine Art Sklaverei) und Kindern (eigene? ich???) nicht so selbstverständlich
scheint.
Der rote Schnellhefter beinhaltete minutiöse Anweisungen für ihren Todesfall - es überrascht
keinen, daß auch die Grabstelle längst gekauft und gesichert war. Wie lange im voraus für
sie feststand, wo sie beerdigt werden wollte, offenbarte der Grabstein. Mein lange vor meiner Geburt
verstorbener Großvater, seine Frau und deren Schwester lagen bereits in dem Grab und auf dem
Grabstein war exakt noch eine Zeile frei für ihren Namen - und die war auch nur deshalb frei,
da die Namen meiner Oma und ihrer Schwester sehr sehr dicht untereinander gesetzt worden sind.
Sollte sich bei der Beerdigung also jemand gefragt haben, weshalb ich grinsen mußte, ist das
Geheimnis hiermit gelüftet.
In dem roten Ordner war auch die Anweisung, daß ihre Einäscherung ohne Blumenschmuck und
Trauergäste erfolgen sollte und auch zu ihrem Urnenbegräbnis liess sie kaum Blumenschmuck zu.
Streng - ein sehr passendes Wort für meine Tante. Ihre Lieblingsfarben schwarz und weiß und
die Kleidung streng und rüschenlos. In ihrem Leben hat sie vermutlich 2.000 Blusen genäht
und alle hatten glatte Armbündchen und einen kleinen spitzen Kragen. Als es zu den Totenhemden
kam, offenbarte sich die erste und einzige Planungsschwäche meiner Tante - wir hatten lediglich eine
Auswahl zwischen drei gerüschten Hemden. Rüschen - an meiner Tante?!
Beharrlich schoben wir einander die Verantwortung für die Entscheidung zu, bis uns einfiel, daß sie
niemand in dem Hemd sehen würde. (falsch gedacht ...) Leichtsinnig ignorierte ich gleich noch das
Blumenverbot und bestellte 3 Rosen für in den Sarg.
Wäre es nicht vollkommen unwichtig gewesen, hätte ich es bereut, denn kurz darauf stand ich
vor einem offenen Sarg und nahm Abschied.
Es ist immer wieder erstaunlich, daß neben großen Gefühlen immer noch Platz für
Lappalien bleibt. Geht das nur mir so?
Unbändige Lust auf Cola, als ich nach 9 Monaten mein Baby in den Arm gedrückt bekomme und
neben dem Kummer um meine Tante ein Schuldgefühl für ein Rüschenhemd, was Augenblicke
später zu explodieren drohte, als der
Gärtner erschien, sich entschuldigte und meiner
Tante die Rosen in die Hand drückte.
Ich wollte, daß sie in den Sarg gelegt werden, damit sie den Rosenduft hat und nicht, daß
irgendwer an ihr herumbiegt und wie einer Barbie Kram in die Hände drückt.
Aber wie gesagt, es war unwichtig und auch eine Clownsnase oder eine Babyrassel hätte nichts
an irgendwas geändert. Der Tod ist schon etwas merkwürdiges und keine Bange, es liegt mir
fern zu philosophieren. Man verspürt einen ungeheuren Verlust und gleichzeitig Dankbarkeit,
diesen Menschen überhaupt gekannt zu haben. Natürlich vermisse ich unsere Gespräche,
aber ich habe doch meine Erinnerungen. Daran, wie ihre Nase plötzlich spitzer zu werden schien,
wenn sie sich ärgerte, wie sie kurz Luft holte und dabei entschied, einen mit ihrem profunden
Wissen vom Feld zu wischen, oder noch eine Flasche Wein zu holen und verschmitzt zu grinsen.
Wobei zweiteres nicht etwa bedeutete, daß sie nachgab und uns je in irgendwas Recht gab,
sondern es ihr ausreichte, wenn sie wußte, daß sie Recht hatte - und wie gesagt, das hatte
sie immer ...