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Schutzengel

Ich bin als drittes Kind und einzige Tochter nach zwei Jungen recht zufrieden aufgewachsen. Meine Brüder hatten aus unterschiedlichen Gründen so ihre Problemchen in der Kindheit und Jugend; ich hatte es als Nesthäkchen verhältnismäßig leicht und und hatte eine unbeschwerte Kindheit. Ich fand alles gut, so wie es war.
Vielleicht war es auch deshalb immer meine Wunschvorstellung, mal drei Kinder zu haben.

Und tatsächlich kam es auch so. Die Großen waren 6 und 3 Jahre alt, als unsere Kleinste am 5.11.2001 um 2.30 Uhr nachts auf die Welt kam, und sie ist natürlich wieder ganz anders als die anderen beiden Kinder, die sich auch schon stark unterscheiden. Schon die Geburten waren alle ganz unterschiedlich.
Das erste Kind kam per Kaiserschnitt, weswegen wir beim zweiten Kind sehr glücklich über die normale, recht zügige und komplikationslose Geburt waren.
Was aber eine richtig harmonische Geburt ist, lernten wir erst beim dritten Mal. Zum ersten Mal war ich nicht schon vorher stationär im Krankenhaus aufgenommen worden, gab es keine Sorgen. Ich konnte bilderbuchmäßig zuhause abwarten, die Minuten zwischen den Wehen zählen, irgendwann um Mitternacht entscheiden, dass wir jetzt aber mal losfahren sollten, und zwar dieses Mal in ein anderes Krankenhaus.

Die Entbindungsstation war regelrecht gemütlich, das Licht angenehm gedämpft, die gewählte dezente Hintergrundmusik gefiel mir, das Badewannenwasser tat mir gut, und die Geburt ging wieder schön voran, so dass ich merkte, was ich hier leiste, führt auch direkt zum Erfolg.
Hatte ich am Schluss beim ersten Mal gepresst wie eine Wilde (und auch solche Geräusche von mir gegeben), glitt dieses Mal das Baby regelrecht aus mir heraus, die Urgewalt der Wehen ließ sich von mir selbst wohldosieren und steuern. Ich hatte die Hand am Kopf meines Kindes hätte ich mir vorher nie träumen lassen, dass ich das tun könnte! und dadurch, glaube ich, spürte ich genauer, was passierte und hatte auch keine Dammverletzungen.
Unsere Tochter wirkte von der ersten Sekunde an zufrieden, freundlich und ausgeglichen, und das ist sie heute noch.
Wir waren sehr glücklich, schon wieder ein gesundes Kind in den Armen halten zu können.

Nach dem Kreißsaal gingen wir noch für ein paar Stunden in ein Vorwehenzimmer, nahmen dort noch das Frühstück ein und regelten die Formalitäten mit dem Krankenhaus und dem Standesamt. Wir hatten der Kleinen als Zweitnamen den Namen meiner Oma gegeben, die knapp zwei Wochen zuvor friedlich und schmerzfrei gestorben war. Diesen Namen hatten wir uns schon lange vorher für den Fall eines Mädchens ausgewählt, denn meine Oma trug schon länger immer weniger Leben in sich und wir konnten vermuten, dass der Zeitpunkt ihres Todes wohl ungefähr in den Zeitraum der Geburt fallen würde. Uns gefiel der Gedanke, sie durch ihren Namen ein bisschen weiterleben zu lassen, und natürlich gefiel uns der Name selbst auch.

Gegen 11 Uhr morgens fuhren wir schon wieder heim. Mein Mann hatte seinen Teil der Familie schon vom Krankenhaus aus informiert; ich griff im Auto sofort zum Handy und rief meine Eltern und Brüder an. Das heißt, meinen älteren Bruder Günter konnte ich nicht direkt anrufen, da ich seine Geschäftsnummer nicht dabei hatte; also rief ich seine Frau zuhause an.
Die beiden haben auch zwei kleine Kinder und wissen, wie euphorisch man sich nach einer glücklichen Geburt fühlen kann und dass man die Nachricht gerne schnell an seine Lieben loswerden will.
Ich trug meiner Schwägerin auf, Günter in der Firma anzurufen und alles weiterzuerzählen, was sie nach ihrer Beglückwünschung woh auch gleich tat.
Wir waren noch nicht lange zuhause angekommen, als Günter zurückrief und meinen Mann an der Strippe erwischte. Ich war wohl gerade am Stillen oder so, jedenfalls konnte ich nicht ans Telefon kommen. Er rief abends dann nochmal an, um mir persönlich gratulieren zu können.
Ich dachte noch, wie goldig ich das fand und dass das ja nicht nötig gewesen wäre, dass er extra nochmal anrief. Er wollte mich auch nicht lange stören, eben nur seiner Mitfreude Ausdruck verleihen.
Abschließend sagte er noch, er werde dann in den nächsten Tagen wieder anrufen, wenn sich alles beruhigt und eingependelt hätte. Er wusste, dass tags drauf unsere Mutter für eine Übernachtung zu mir fahren wollte, um die Kleine zu sehen, und hatte selbst am folgenden Tag eine Geschäftsreise anstehen.

Da die großen Kinder bei meiner Schwiegermutter einquartiert waren und nur mal zu Besuch kamen, um ganz begeistert das neue Schwesterchen zu begrüßen, konnte ich mit meiner Mutter am nächsten Tag in Ruhe da sitzen bzw. liegen und klönen das war so richtig schön. Wir redeten ein bisschen über dies und jenes. Wir sehen uns selten zu zweit, meistens eher mit den Familien, und genießen diese Zeiten dann immer sehr. Im Nachhinein kommen mir diese Stunden paradiesisch vor, wie die perfekte Harmonie. Nicht lang vor der geplanten Heimfahrt meiner Mutter klingelte das Telefon und sie ging dran. Es war meine Schwägerin.

Es war der 7.11.2001, mein drittes Kind war zwei Tage alt und mein Bruder Günter war in den frühen Morgenstunden im Bad seines Hotelzimmers tot zusammengebrochen. Ursache war sein Herz, mit dem er zwar schon Schwierigkeiten gehabt hatte, aber so etwas war niemals zu erwarten gewesen, schon gar nicht zu diesem Zeitpunkt, denn es ging ihm eigentlich besser denn je.

Meiner Mutter schien es schier ein Stück ihres Herzens herauszureißen.
Im Gegensatz zu mir hatte sie es gleich verstanden, glaube ich. Ich dachte nur, das kann doch einfach nicht sein.

Wie viele unterschiedliche Emotionen kann ein Mensch gleichzeitig verarbeiten?
Anscheinend nicht so viele. Bei mir klingelten die Hormone lauter als die Trauer dröhnen konnte. Natürlich weinte ich viel, war unendlich traurig, ungläubig, hauptsächlich vielleicht sogar einfach verständnislos. Wie kann so etwas sein?
Bei einem 38jährigen, so lebensfrohen Familienvater?
Und dann auch noch bei MEINEM Bruder? Und so unerwartet? ?
Aber mein Neugeborenes war da, es war auf mich angewiesen, ich musste ja schließlich weiter funktionieren. Das Baby musste im Vordergrund stehen, sonst kann es ja schlicht nicht überleben, sagten mir meine Hormone. Ich verlor also nicht völlig die Fassung. Ich konnte im Kreis meiner Familie auf dem Sofa sitzen und stillen, während mir die Tränen über die Backen rollten, wie ein unaufhörlicher Strom, aber ich blieb noch recht ruhig dabei. Ich konnte dem Pfarrer bei der doppelten Urnenbeisetzung von Günter und unserer Oma zuhören und ihm ins Gesicht sehen, als er eine sehr ehrliche und berührende Predigt hielt, dabei auch meinen anderen Bruder und mich ansprach, und die Tränen rollten weiter, aber ich fühlte mich wieder eher ruhig. Ich konnte meinen Freunden und allen, denen ich es sagen wollte, von Günters Tod berichten, auch wenn ich dabei weinte. Ich versorgte meine Familie, so weit ich konnte, ließ mir auch dabei helfen, und hatte kaum Zeit für mich selbst. Höchstens unter der Dusche, wenn es mal ruhig war, wenn ich alleine war und die Gedanken anfingen zu wühlen, da hatte ich auch mal einen Weinkrampf und solche Dinge.

Aber auch das nahm relativ schnell ab, nachdem die ersten krassen 10 Tage bis zur Trauerfeier vorüber waren. Und das war ein sehr unangenehmes Gefühl. Ich wollte doch trauern!
Ich wollte doch gar nicht verstecken, wie weh es mir tat, und ich wollte es ´rauslassen, wie man so schön sagt, wollte es verarbeiten, aber es ging einfach nicht. Mit den drei Kindern kehrte der Alltag ja so schnell zurück. Mein Mann musste wieder arbeiten. Meine Mutter kam, um mir zu helfen, und ich war froh, dass sie in ihrer Verzweiflung durch mich wenigstens noch eins ihrer Kinder in der Nähe hatte. Aber ihr ging es so schlecht und sie tat mir so leid, dass für mich in mir drinnen noch weniger Platz war als sowieso schon. Und wenn mir all dies klar wurde, schämte ich mich fast dafür, nicht nur, weil ich es so nicht wollte, sondern auch wegen meiner Schwägerin, die nun Witwe war.
Für sie war es doch noch viel schlimmer, denn sie traf es doch viel härter und sie litt unter dem selben Effekt wie ich: sie konnte nicht so trauern, wie sie es gerne getan hätte. Auch sie führte es auf ihre Kinder zurück, vielleicht auf das Stillen. Sie hatte meinen Bruder sehr geliebt und die beiden hatten eine sehr harmonische Beziehung geführt, manchmal so friedlich, dass ich immer wieder spöttisch Witzchen über ihre Süßholzraspelei gerissen hatte. Sie wartete sehr, sehr lange auf eine Art Absturz, wohl wissend, wie wichtig er für die Zukunft, für die Verarbeitung sein würde. Derweil kämpfte sie sich so tapfer durch die Härten ihres neuen Lebens. Was waren da schon meine Probleme dagegen? Verhältnismäßig unbedeutend, würde ich auch heute noch sagen.

Was auch schwierig für mich war, war die Tatsache, dass ich so wenig mitmachen konnte, praktisch helfen konnte, als so viel zu tun war. An Günters Todestag traf sich die Familie zwar in unserem Haus, da er nicht weit von hier entfernt auf seiner Geschäftsreise gestorben war. Ich half ein wenig bei der Gestaltung der Anzeige, fand im Internet ein wunderschönes kurzes Gedicht, das wir verwendeten. Wir beherbergten in dieser Nacht eine Menge Familienangehörige. Ich war ja so froh, ambulant entbunden zu haben und deswegen wenigstens dabei sein zu können. Wäre Günter in seinem eigenen Haus gestorben, hätte ich wohl kaum in diesem Moment mit meinen Eltern und allen anderen zusammensein können - und das war an diesem Tag sehr wichtig. Aber am nächsten Tag reisten alle wieder ab. Die Trauerfeier in unserem Heimatort konnte ich auch nicht mitorganisieren, und auch danach konnte ich noch nicht einmal Adressen auf Danksagungen schreiben. Ich konnte auch nicht meiner Schwägerin mit ihren Kindern helfen, sie besuchen, ihr Arbeit abnehmen.
Ich musste zuhause bei meiner eigenen Familie funktionieren und tat es auch.

Daraus ergab sich ein weiteres Problem für mich:
man sieht mir meine tief sitzende Traurigkeit von außen kaum an, ich wirke nicht verändert. Und das, obwohl ich doch gar nichts verstecken will. Manchmal habe ich fast ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht ständig verheult durch die Gegend laufe, denn schließlich denke ich doch so viel an meinen Bruder und auch an seine Familie, und ich bin einfach sehr sehr traurig.
Aber dadurch, dass meine Trauer nicht so offensichtlich ist, spricht mich auch kaum jemand auf die ganze Sache an. Anscheinend hoffen die meisten, dass ich alles ganz gut verarbeitet habe. Wenn ich selbst mit dem Thema anfange, weicht niemand mir aus, und das tut sehr gut. Aber mir würde es noch besser tun, wenn ab und zu mal jemand fragen würde, wie es mir eigentlich bezüglich Günter geht.

Nun sind die Geburt unserer Tochter und Günters Tod fast ein halbes Jahr her. Ein lieber Mensch hat kurz nach Günters Tod zu mir gesagt, dass in manchen Kulturen davon ausgegangen wird, dass der Verstorbene als Schutzengel um das neugeborene Kind herumgeistert.
Meine Schwägerin hält sich ebenfalls stark an dem Gedanken fest, dass Günter ihr sozusagen als ihr persönlicher Engel zur Seite steht. Vor kurzem hatte wir Taufe und wählten einen Taufspruch, in dem es um den Schutz durch Gott und seine Engel geht. Denn Günter und meine Tochter sind auch für mich eng miteinander verbunden.

Ich spreche immer wieder mit meinem Bruder und bitte ihn, auf meine Kleinste aufzupassen. Oft bete ich abends mit meinen beiden Großen, die sich das selbst immer einfordern, für Günter und meine Oma. Was ich da eigentlich genau beten kann, weiß ich aber selber nicht. Wir bitten dann den lieben Gott, im Himmel gut auf Günter und meine Oma aufzupassen und ihnen einen schönen Gruß auszurichten. Oft bin ich heimlich dabei bitter und denke mir, lieber Gott, ach hättest Du doch lieber schon hier unten besser auf ihn aufgepasst. Gibt es dich dann überhaupt? Und wenn doch, wofür überhaupt gibt es Dich dann? Meine Mutter hat, glaube ich, ihren Glauben mittlerweile gänzlich verloren. Ich frage mich manchmal, ob ich nun noch rein aus Gewohnheit glaube. Aber schließlich kommt ich dann immer wieder zur Überzeugung, dass mein Glauben eigentlich durch Günters Tod nicht beeinträchtigt worden ist, denn ich bringe seinen Tod gar nicht so sehr mit Gott in Verbindung. Vielleicht hatte ich dann ja auch im Vorneherein keinen echten Glauben. Ich habe keine Ahnung.

Unsere kleine Tochter kam in den ersten Lebensmonaten schon ein bisschen zu kurz, wenn man sie mit ihren Geschwistern vergleicht und mit der Aufmerksamkeit, die sie hervorgerufen haben. Viele Freunde und Bekannte wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Sollte man anrufen oder vorbeikommen? Erst gratulieren, dann kondolieren, oder umgekehrt?
Besser erst mal gar nichts tun?
Letzteres war verständlicherweise für viele die Verlegenheitslösung. Uns hat das zwar nicht so richtig viel ausgemacht, denn es war halt alles verkorkst, aber ein bisschen schade ist es schon.

Manchmal tut mir auch meine Oma leid. Ihr Tod ging ja fast unter in dem Aufruhr, denn ein Tod überschattete den anderen, wie der Pfarrer, übrigens so etwas wie ein Freund der Familie, treffend formulierte. Aber er hatte auch recht, als er darauf hinwies, dass der Tod dieser alten Dame in Ordnung ging, der von Günter hingegen nicht.
Den kann keiner akzeptieren. Wildfremde Leute kondolierten sogar. Oft denke ich an die Beisetzung, zu der so viele Menschen von überall her kamen. Zum ersten Mal konnte ich nachvollziehen, warum man sich bei einem Trauerfall so verhält. Bislang war ich noch nie unter denen gewesen, die direkt am Grab stehen mussten. Nun konnte ich verstehen, warum man traditionellerweise als Trauergast da vorne vorbeigeht. Es tut den Hinterbliebenden oft ? mir jedenfalls! - wirklich gut zu sehen, wie viele andere Menschen Anteil nehmen, sich ebenfalls die Augen ausweinen, keine Worte finden. Man ist nicht allein.

Unserer Kleinsten geht es übrigens blendend. Sie ist ein richtiger Sonnenschein. Mittlerweile traue ich mich sogar, sie Engelchen zu nennen - das Wort hatte eine ganze Weile nur verängstigtes Unbehagen hervorgerufen.
Sowieso habe ich glücklicherweise nicht mehr diese fürchterliche Angst um sie. Ich hatte schon bei den anderen beiden die typischen irrationalen Ängste einer Mutter gehabt, sie könnten plötzlich tot im Bettchen liegen.
Dieses Mal war es natürlich ganz schlimm. Ich hatte alle möglichen Horrorvisionen und hatte riesige Angst, es könne nun zu einer Art Todesserie in der Familie kommen.
Mein Vater hatte auch solche Ängste. Nachdem wir es beide ausgesprochen hatten, ging es uns schon besser. Trotzdem denke ich oft daran. Was, wenn einem meiner Kinder etwas passierte? Würde ich völlig austicken?

Mein Mann hat überlegt, ob die Geburt unserer Tochter deswegen so harmonisch und glatt abgelaufen ist, damit wir für das, was danach kam, noch genug Kraft haben würden.
Manchmal denke ich, vielleicht war es wirklich so.

Allmählich setzt sich alles, auch das, was gar nie richtig zum Vorschein kam, nicht richtig sichtbar geworden ist. Schon lange warte ich nicht mehr auf Günters Anruf, den er doch angekündigt hatte und den ich noch Wochen nach seinem Tod herbeisehnte. Schließlich hatten wir auch sonst immer viel telefoniert.
Es gibt für mich insgesamt immer noch zu wenig Situationen, in denen sein Fehlen so offensichtlich ist wie an Weihnachten oder bei der Taufe, denn ich will immer noch mehr trauern können, auch wenn ich mitterweile schon besser geworden bin.
Andererseits habe ich auch große Angst vor diesen Situationen, speziell vor einem eigentlich wunderschönen Ort, an dem wir uns regelmäßig trafen und an dem ich seither nicht mehr war.
Es wird dort nie wieder so sein wie früher, denn dieser Ort ist ganz besonders geprägt durch unsere familiären Zusammenkünfte dort. Natürlich will ich wieder hinfahren, aber oje, wenn ich nur daran denke...
Mir tut es auch oft weh, wenn ich Geschwister beobachte, vor allem ältere Menschen mit ihren Brüdern. Es erinnert einfach daran, dass ich einen Bruder verloren habe und dass wir uns eben nicht mehr treffen und über dies und jenes Familienerlebnis erzählen und lachen können.

Immerhin habe ich jetzt mal alles aufgeschrieben.
Die Tränen sind natürlich dabei gekullert, aber das tut gut. Ich möchte diesen Bericht gerne anonym veröffentlichen, um ein für mich offensichtliches Stück Trauerarbeit geleistet zu haben, auch wenn das nicht jeder verstehen mag. Vielleicht schreibt mir auch jemand, der meine Situation aus eigener Erfahrung kennt, oder jemand, der einfach nur mitfühlt und irgendwas dazu sagen kann, ich weiß ja auch nicht was.

ohne Namen am 01.05.02


Nachtrag

Der Tod meines Bruders jährt sich nun zum ersten Mal, und meine Kleine wird ein Jahr alt.
Der Herbst ist wieder da, und obwohl ich diese Jahreszeit sehr mag, ist sie dieses Mal in so manchen Momenten wieder beklemmend. Aber ich hatte auch nichts anderes erwartet und denke, so wird es nun jedes Jahr sein, vielleicht nicht immer gleichbleibend heftig, aber die Gedanken werden in diesen Tagen des Spätjahres immer um das kreisen, was letztes Jahr passiert ist.

Ich möchte noch von einem Traum berichten, den ich vor ein paar Monaten geträumt habe, kurz nachdem ich diesen Bericht für mich und auch für andere geschrieben hatte.
In meinem Traum fing ich aus irgendwelchen Gründen an daran zu zweifeln, ob diese ganze Geschichte mit meinem Bruder überhaupt wahr sein konnte. Vielleicht war er ja gar nicht gestorben und ich hatte mich einfach nur irgendwie getäuscht?
Ich beschloss in diesem Traum, ihm einfach wie immer eine E-Mail zu schicken. Daran, ob er antworten würde wie immer, würde ich dann ja sehen, ob alles nun real war oder nicht. Und was passierte prompt:
mein Bruder rief mich gleich an. Ich war so von der Rolle, dass ich zunächst keinen Ton sagen konnte (ich glaube, dass ich in diesem Moment auch in der Realität in meinem Bett angefangen habe zu zittern). Günter begann nun, so wie immer, von seinen Kindern und seinem Leben zu berichten, während ich verzweifelt nach einem Halt suchte und dachte, das kann doch nicht wahr sein, er ist doch gestorben, was ist hier nur los!?
Schließlich bemerkte er, dass ich mich seltsam verhielt, und fragte nach. Ich kämpfte immer noch mit mir selbst, ob dies jetzt ein Traum oder Wirklichkeit ist - das hat man ja manchmal, dass man merkt, dass man eigentlich gerade in einem Traum ist, und manchmal kann man den Traum dann ja auch lenken. Es dauerte eine ganze Weile, bis ich mich traute, ihm zu gestehen, dass ich ihn eigentlich für tot hielt.
Darüber lachte er nur und meinte: "So ein Quatsch, du siehst doch, dass ich hier mit dir rede", ging gar nicht weiter auf meine Sorge ein und erzählte weiter von seinen Kindern. In diesem Moment hatte ich den Köder geschluckt. Ich glaubte wirklich, ich müsse mich einfach geirrt haben. Er war nicht tot!
Und er hielt es noch nicht einmal für nötig, zu begründen, warum er jetzt nicht tot ist! Daran konnte ich ja sehen, wie sehr es an den Haaren herbeigezogen war! Ich war sehr erleichtert. Ich glaubte ihm. Ich glaubte das, was ich ja am liebsten glauben wollte.

Bis mich direkt darauf ein Kind aus dem Schlaf riss.

Ich war, nachdem ich mich wieder gefangen hatte, fast sauer auf Günter. Warum hatte er mich denn nun so reingelegt?
Ich kam mir vor, als hätte er den Hampelmann mit mir gemacht, an den Strippen gezogen und ich war gefolgt, hatte getan, was er wollte. Und dabei war es alles gar nicht wahr. Nun hatte er mich mit seinem Tod schon einmal so getroffen, warum jetzt im neuen Aufwasch gleich noch einmal?!
Er hatte mich betrogen. Warum nur?

Nachdem ich diese Gedanken eine ganze Weile mit mir herumgeschleppt hatte, kam ein entfernter Freund zu einem verspäteten Kondolenzbesuch zu uns. Ich erzählte ihm von meinem Traum und meiner Reaktion. Da fragte er mich, warum ich das Ganze eigentlich so negativ sehe. Er selbst fand vielmehr eine Botschaft von Günter an mich in meinem Traum.
Günter wollte mir wahrscheinlich nur sagen, dass er sehr wohl noch da ist. Nicht da, wo ich und alle anderen Betroffenen ihn gerne hätten. Auch nicht in der Form, in der wir ihn gerne sehen würden, sondern irgendwie anders, wer weiß wie. Aber das Wichtige war doch, dass er mir mitgeteilt hatte, wir können und sollten weiter miteinander kommunizieren.

Ich war verblüfft ob dieser Interpretation. Aber sie ergab sofort einen Sinn für mich.
Und sie half mir sehr und tut es noch. Die Gelegenheiten sind selten, aber manchmal sehe ich mich nach wie vor mit ihm durch eine unsichtbare Leitung verbunden und dann erzähle ich es ihm, wenn ich seine Familie gesehen habe und wie die Kinder sich machen oder wie es meiner Schwägerin geht (so weit ich das beurteilen kann). Ich bin froh, dass dieser alte Freund mir so geholfen hat. Es kam auch so spontan und so überzeugt von ihm!
Das war einfach klasse.

Genauso haben mir in den letzten Monaten die Mails geholfen, die ich auf meinem Bericht auf der HFS hin bekommen habe. Erstmal ist es einfach schön zu sehen, wie viel Mitgefühl da übermittelt wird. Ich merke, wie viele mir dazu etwas sagen wollen, und wie ehrlich es jeder einzelne meint. Das ist ein großes und schönes Gefühl. Und noch wichtiger: Jeder greift einen anderen Punkt aus meinem Bericht heraus und hat etwas dazu zu sagen. Jedesmal, wenn ich dann zurückschreibe, habe ich danach das gute Gefühl, einen anderen Teil in mir umgepflügt und bearbeitet zu haben. Es ist richtig systematische Trauerarbeit daraus geworden, genau das, was mir gefehlt hatte.
Das tut sehr gut.

Ich konnte leider nicht mit allen den Kontakt halten, die mir dennoch in einer Art und Weise geschrieben haben, dass ich am liebsten den Kontakt gehalten HÄTTE.
Das tut mir leid, aber es ist einfach nicht möglich. Aber wenigstens konnte ich allen mindestens einmal antworten, mich bedanken und auf das Geschriebene reagieren. Das werde ich auch weiterhin tun. Ich freue mich nach wie vor über Eure Reaktionen und glaubt mir, sie helfen mir wirklich. Und jetzt, wo die Blätter wieder fallen und mir das Gedicht auf der Anzeige wieder so präsent ist, wo das Wetter mich immer mehr an die unmittelbare Zeit im letzten Jahr erinnert und mein Kind seinen ersten Geburtstag feiert, da sind sie wieder besonders wichtig, Eure Mails.
Vielen Dank dafür.

Lebenstanz

Durch Herbstsonne
goldgelb getünchtes Blatt
laß Dich los,
laß Dich fallen !

Gib Dich hin
der Aufforderung
des Windes,
der Dich führt
zum letzten Tanz
Deines Lebens.

(von Sabine Balzer) ohne Namen am 18.10.02


wunderschöne Stiefmutterlinie

Hausfrauenseite