
Sterbende Mütter und das kleine Reh

Gellende Schreie tönen aus unserem Garten.
Nein, Mama - nein, bitte, Mama, nicht! schreit Michaela. Dann ein furchteinflössendes Gurgeln,
weitere Schreie. Derweil sitze ich am Gartentisch und blättere in einer Zeitschrift.
Michaela schreit noch lauter, bettelt um Gnade - ich sitze ungerührt am Tisch, betrachte meine Nägel,
überlege, wo ich die Nagelfeile zuletzt gesehen habe und hoffe nebenbei, daß von den Nachbarn
keiner auf die Idee kommt, die Polizei oder das Jugendamt zu verständigen.
Michaela sitzt mittlerweile auf dem Sandkastenrand, streckt ihre Ärmchen aus und sagt:
Ich kann es nicht, Heidi, ich lerne das nie -> herzergreifendes Geschluchtze folgt.
Aber das Spiel mag Oliver nicht. Heidi und Geißenpeter ist noch ok, aber Klara kann ihm gestohlen
bleiben.
Was sie vorher gespielt haben, weiß ich nicht recht und ich möchte auch nicht
wirklich fragen.
Gelegentlich höre ich lautes Mama-Geschrei, stürme hin um von meinen Kindern vollkommen verblüfft
angeschaut zu werden:
ich meine dich nicht, ich meine doch den Oliver! sagt Michaela dann.
Weshalb
rufst du dann nicht Oliver? fragte ich anfangs noch, aber die Erklärung führt dazu, daß
das mütterliche Hirn sich in rosa schillernde Seifenblasen auflöst.
Also,
kurz gesagt, die Kinder spielen, daß sie von einem Bösen mit einem roten Auto
entführt und im Wald, in dem es auch ein kleines Reh gibt in einen großen, hohlen Baum
gesperrt werden und dort gibt es grünen Wackelpudding, den eine Frau kocht, die sagt, sie sei die neue
Mutter. Die Kinder müssen dann immer Mama zu ihr sagen und ihr beim Abwaschen helfen. Dabei zerbricht
Michaela einen kleinen, grünen Teller mit bunten Blumen, der der Lieblingsteller von dem kleinen Reh
war und deshalb muß sie nun einen Strauss Blumen pflücken, den ihr dann aber ein böser Hase
wegfrisst, was ihr aber die neue Mama nicht glaubt ... *sabbel*
Es folgen Waldgeister, Monster, Gespenster, drakonische Strafen - im Spiel erträgt meine Tochter dies
alles mit einer irren Leidensfähigkeit und mir sehr ungewohnten Eigenschaft, durch eigene Güte
und Hilfsbereitschaft all dieses zu meistern.
Anfangs dachte ich noch, ich müßte irgendwie pädagogisch wertvoll darauf eingehen, aber bis
auf gelegentliche Einwürfe meinerseits, halte ich mich raus.
Selbst erbärmlichstes Mama-Geschrei weiß ich jetzt zu ignorieren, sobald der fordernde
Kommandoton
fehlt ... Was allerdings bereits einmal dazu führte, daß Oliver von Mami unerhört auf der
Toilette saß und auf Hilfe in Sachen Toilettepapier wartete, bis Michaela sich bei mir beschwerte,
sie könnten nicht spielen, wenn Oliver immer dazwischen rufen würde.
Aus der Ferne hörte ich ein verzweifeltes
Mama!
Ich sah meine Tochter an, ich sah ihre Freundin an -
wer von euch spielt denn die Mama?
Ich bin eine Blume und Philo ist ein Häschen und will mich fressen, weil auf der Wiese nur ganz
stachliges Gras wächst, an dem Häschen sich das Maul aufreissen und obwohl das Häschen also
die Blume total mag, muß das Häschen jetzt endlich irgendwas fressen, aber das Häschen ist
ganz traurig und weint .... (viele rosa Schaumbläschen ...), antwortete Michaela mir dann. Dabei
stürmen wir übrigens gemeinsam ins Bad, wo ich Oliver von der Toilette hole.
Die Mama-Schreierei in solchen Spielen dauert meist nicht lange, denn wie in jedem guten Buch, stirbt die
Mama recht schnell und dann beginnt der eigentliche, aufregende Teil des Spiels. Ist so - Klara hat keine
Mutter, Pipi Langstrumpf nicht, Heidi auch nicht und auch die meisten Märchenfiguren sind mutterlos
ihrem Schicksal ausgeliefert.
Am schönsten an solchen Spielen finde ich (wenn ich gerade den Kopf frei habe ...) das Warming-up.
Die Kinder sitzen zusammen und bestimmen die äusseren Gegebenheiten. Derzeit spielen sie mit
Hingabe und viel Gefühl die herzzerreissende "Klara steht aus dem Rollstuhl auf"-Szene.
Die Sträucher da, sind alles Schafe - der Oliver wäre der Geißenpeter
Ich will nicht der Peter sein - ich will auch mal die Klara sein!
nein, die Klara bin ich!
nein ich - immer bist du die Klara, ich will auch mal die Klara sein >>schnitt<<
Und dann hätte der Almöhi den Rollstuhl bis auf diese Wiese geschoben und
wäre hm, weggegangen - ganz weit. Und so ein Schaf stößt den Rollstuhl an, so mit
dem Kopf und der Rollstuhl ...
Sie sitzen stundenlang da, legen die Rollen fest, welcher Stein im Spiel was ist, feilen an der Geschichte,
stellen klar, wer was gerade dann fühlt. Dann kommt das Spiel selbst:
Michaela lässt sich vom Sandkastenrand auf den Boden plumpsen - fertig.
Gefolgt von
jetzt will ich aber mal die Klara sein!-Geschrei. Wobei aber nun nicht einfach das
nächste Kind auf die Wiese plumpst, sondern erst einmal alles neu festgelegt wird. Diesmal kommt
das Schaf nicht drin vor, stattdessen schubst Fräulen Rottenmeier den Rollstuhl an und bringt die
arme Klara in die entsetzliche Zwangslage, sich hinausstürzen zu müssen, um nicht samt Rollstuhl
in der Schlucht zu landen. Philo plumpst vom Sandkastenrand auf den Boden - es sieht nur aus, als wäre
es vollkommen das gleiche gewesen, aber das täuscht...
Natürlich müssen Mütter alles verderben - zumindest versuchen sie es. Einmal brachte ich die
Spielidee auf, die armen Kinder müßten bei der neuen Mutter wahnsinnig viel aufräumen,
damit sie das Reh nicht brät (unterschwellig war ja immer klar, daß das Reh eigentlich auf
Seiten der Kinder ist und den Verlust des Tellers ganz gut verkraftet ...). Die Kinderzimmer sahen aus,
als hätte eine Bombe eingeschlagen und so fand ich mich ausgesprochen pfiffig.
Die ganze Zeit hörte ich Aufräum-Kommentare meiner Kinder und irgendwann dann auch ein geflehtes:
wo es jetzt so ordentlich ist, wirst du das kleine Reh doch nicht wirklich braten, oder?
Neugierig kam ich zu den Kinderzimmern. Der Ordnungsstatus hatte sich in keinster Weise geändert - Oliver
hatte etwas Shampoo auf die Fenster geschmiert, aber ansonsten konnte ich keine Veränderung
feststellen.
schau, wir haben sogar die Fenster geputzt ..., brabbelte Michaela
und alles
aufgeräumt. Sogar deine Kleider genäht ...
WAAS???, schreie ich panisch und schaue mich um. Shampoo am Fenster verkrafte ich, aber was ist mit
meinen Kleidern? Nichts natürlich - sie haben nur so getan. So wie beim Aufräumen. Als würden
sie irgendwas mit meinen Kleidern machen ... Shampoo am Fenster ist was ganz anderes.
Augen verdrehen: Mensch, Mama ...