374 Frauen bekennen vor der Öffentlichkeit:
Wir haben abgetrieben
Was auf diesen Seiten geschieht, ist kein Aufstand gegen das Recht, sondern ein Protest gegen die
Verlogenheit eines Paragraphen, an den selbst die Richter nicht mehr glauben. Der Paragraph 218
verbietet, was Hunderttausende von Frauen tun.
Er ist Schuld daran, daß sie es heimlich tun, und daß sie ihr Leben dabei in Gefahr
bringen. Nun stehen 374 Frauen auf und fordern Staatsanwälte und Richter heraus:
"Wir haben abgetrieben - klagt uns an, sperrt uns ein, wenn ihr den Mut dazu habt!"
Die Streichung des Paragraphen 218 ist eine Voraussetzung für die Befreiung der Frau
Diese jungen Verlinerinnen rufen zum Kampf gegen §218 auf. In einer Woche sammelten sie 130
Unterschriften von Frauen, die öffentlich erklären: "Wir haben abgetrieben." Sie sind
Mitglieder des Sozialistischen Frauenbundes Westberlin und sie fordern die "Streichung des
Paragraphen 218 als eine Voraussetzung für die Befreiung der Frau"
Die Fernsehansagerin Anneliese Fleyenschmidt
Ich konnte nie abtreiben. Im Gegenteil - ich habe mir vergebens ein Kind gewünscht. Dennoch finde
auch ich den Paragraphen 218 unmenschlich
Die Schauspielerin Sabine Sinjen mit dem Sohn ihres Freundes
Jede Frau sollte das Recht haben, selbst zu bestimmen, ob sie Mutter werden will oder nicht
Die Journalistin Leona Siebenschön mit ihren Kindern
Gynäkologen sollten nicht wie der liebe Gott bestimmen, wer zu leben hat
Die Fotografin Angela Nenke-Widmann
Der Paragraph 218 benachteiligt die Armen. Für Frauen mit Geld ist die Abtreibung längst kein Problem mehr
Um einen runden Couchtisch in Frankfurt-Eschersheim, Fritz-Reuter-Straße 5, saßen am
3. Mai dieses Jahres sieben Damen, knabberten Käsegebäck und formulierten einen Text, der der
Bundesregierung noch zu schaffen machen wird.
Die Frankfurter Damenrunde setzte sich aus Mitgliedern der Frauenaktion 70 zusammen, die seit
vergangenem Jahr Sturm läuft gegen den Paragraphen 218., der Schwangerschaftsunterbrechungen
unter Strafe stellt. Rund 50 Frankfurterinnen gehören der "Frauenaktion 70" an. Lehrerinnen, Studentinnen,
Journalistinnen und vor allem Hausfrauen. Ihr Motto: Mein Bauch gehört mir.
Jede Frau, so fordern sie, müsse das Recht haben, eine ungewollte Schwangerschaft mit ärztlicher
Hilfe zu unterbrechen.
Um ihrer Forderung Nachdruck zu verleihen, griffen die am Abend des 3. Mai zusammensitzenden Frauen
eine revolutionäre Idee aus Frankreich auf:
Alle Frauen sollen aufgerufen werden, öffentlich zu bekennen: Ich habe abgetrieben. Damit
käme auf die deutsche Justiz eine Prozesslawine zu, vor der Richter und Gesetzgeber
kapitulieren müßten. Endziel: Streichung des "Abtreibungs-Paragraphen".
Die Kalkulation der sieben Frauen war wohlbegründet. Auf eine Million jährlich wird die
Zahl der Abtreibungen in der Bundesrepublik geschätzt. Erst nach fünf Jahren ist die Selbstabtreibung,
die mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren bedroht ist, verjährt. "Hätten heute alle Frauen,
die in der Bundesrepublik abgetrieben haben, den Mut zur Selbstanzeige", so errechnete die kaufmännische Angestellte
Ingrid Hübner, "würde auf die bundesdeutsche Justiz eine Flut von fünf Millionen Prozessen
zurollen."
In klaren Sätzen formulierten die Frankfurter Frauen den auf Seite 17 abgedruckten Appell, in
dem es unter anderem heißt: "Ich habe abgetrieben. Ich bin gegen den Paragraphen 218 und für
Wunschkinder. Wir fordern das Recht auf die von den Krankenkassen getragene Schwangerschaftsunterbrechung!"
Indessen - als das Papier nach zwei Stunden Redigierarbeit auf dem Couchtisch lag, fand sich niemand
der Initiatorinnen bereit, die Selbstbezichtigung, abgetrieben zu haben, auch zu unterschreiben.
Kleinlaut gab Renate Scheunemann Lebenserfahrung zum besten: "Deutsche Frauen, die sich selbst bezichtigen?
Niemals! Die machen das nie mit, die gehen höchstens artig im Ministerium fragen, ob man das
Gesetz nicht ändern will."
Eine zweite Teilnehmerin räsonnierte: "Bei der Position meines Mannes kann ich mir eine Unterschrift
gar nicht erlauben. Er ist im Staatsdienst."
Die Frauen beschließen, die Sache noch einmal zu überschlafen, im übrigen aber auch mit Freundinnen
in anderen Städten über den Appell zu sprechen. Die ersten, die den provozierenden Satz
"Ich habe abgetrieben" dann auch wirklich mit vollem Namen unterschreiben, sind Münchnerinnen:
- "Weil ich selbst abgetrieben habe. Und weil ich erlebt habe, wie dieser Paragraph die Frauen
zur Unmündigkeit erniedrigt"
(Annemarie Krauß, 31 Jahre alt, Lehrerin)
- "Ich finde es nicht in Ordnung, daß man es so heimlich tun muß und für so viel
Geld. Ich mußte damals einen Kredit für meine Abtreibung aufnehmen."
(Ingrid Schmidmaier, 30 Jahre alt, Hausfrau, zwei Kinder, verheiratet)
- "Dieser Paragraph hätte mir beinahe mein ganzes Leben kaputtgemacht. Ich mußte bei
meinem ersten Kind heiraten - und die Ehe ist dann schiefgelaufen."
(Julia Riedel, 40 Jahre alt, drei Kinder)
-
"Ich habe zehn Jahre lang Angst gehabt, überhaupt mit einem Mann zu schlafen. Angst vor den
grauenhaften Folgen, die ich bei Freundinnen miterlebt habe."
(Alexandra von Rosenberg, 31, Lehrerin)
-
"Eine Frau, die Mutter wird, wird in dieser Gesellschaft zur Sklavin. Ich habe das selbst miterlebt.
Denn der Staat zwingt einen zwar, das Kind zu kriegen, aber danach kümmert er sich den Teufel
drum. Krippenplätze gibt es überhaupt nicht. Und im Kindergarten muß man sich
jahrelang vorher anmelden."
(Edda Albrecht-Wagner, 27 Jahre, ein Kind)
Unser Appell muß
zur Massenbewegung
werden
An der Universität München wird der Aufruf von Studentinnen vervielfältigt. In einem
Begleitschreiben heißt es: "Unser Appell kann nur sinnvoll sein, wenn er nicht auf wenige
Unterschriften beschränkt bleibt. Er muß zur Massenbewegung werden! Im ganzen Land sollten
sich Frauen solidarisieren und Unterschriften sammeln."
Es wird zu einer Massenaktion
Auf dem Flughafen München-Riem unterschreibt die Schauspielerin Vera Tschechowa. Es folgt ihre
Kollegin Helga Anders. Auch die Schauspielerin Hanne Wieder gibt ihre Unterschrift und erinnert sich
dabei mit Grausen, wie es ihr al junges Mädchen bei einer illegalen Abtreibung erging:
"Diese Angst, die ich ausgestanden habe. Morgens auf dem Tischund abends auf der Bühne. Und
niemand durfte was merken."
Aus Hamburg kommt ein Appell mit der Unterschrift Romy Schneiders. Auch sie hat abgetrieben. Ihr knapper
Kommentar am Telefon: "Es wird höchste Zeit, daß wir Frauen uns gegen diesen Paragraphen
wehren."
Uschi Glas in München unterschreibt nicht. Warum, erklärt sie zwischen zwei Einstellungen
im Filmstudio: "Ich unterschreibe alles gegen diesen Scheiß-Paragraphen. Nur, daß ich
abgetrieben hab', das unterschreib' ich nicht. Ich hab's nun mal nicht getan. Und da bin ich abergläubisch."
Auch Anneliese Fleyenschmidt, eine der bekanntesten bayerischen Fernsehsprecherinnen, bedauert, nicht
unterschreiben zu können, weil "ich nicht abgetrieben habe, sondern mir im Gegenteil immer vergebens
ein Kind gewünscht habe". Frau Fleyenschmidt: "Aber ich kämpfe mit den Frauen gegen den
Paragraphen 218 - er ist unmenschlich."
An der Elbe, in Köln, in Düsseldorf, in Berlin spucken Kopiergeräte immer neue Formulare
für die "Aktion 218" aus. Die 77jährige Hamurgerin Adele Heldmann ist die älteeste,
die einen Appell unterschreibt. Am Rand notiert sie: "Bei der Abtreibung beinahe gestorben." In
Frankfurt schreibt ein Teenager mit blauem Kugelschreiber auf den Appell seiner Mutter: "Ich
würde eine ungewünschte Schwangerschaft unterbrechen lassen - Isabel Zollna, 14 Jahre."
Innerhalb von drei Wochen haben 374 Frauen durch ihre Unterschrift öffentlich bekannt:
"Ich habe abgetrieben." Ihnen allen droht nun der Paragraph 218, der 1871 ins deutsche Strafrecht
aufgenommen wurde, mit Freiheitsstrafen bis zu fünf Jahren.
12.000 Katholiken
warnten
Justizminister Jahn
Solange dieser Paragraph besteht, ist er umstritten. Schon in den zwanziger Jahren gingen
Arbeiterfrauen und ihre Männer gegen ihn auf die Straße. Doch der Paragraph, der selbst
nach einer Vergewaltigung eine Schwangerschaftsunterbrechung verbietet, überdauerte die Weimarer Zeit,
das NS-Reich, die CDU_Herrschaft in Westdeutschland.
Der Abtreibungsparagraph wird heute vor allem von der katholischen Kirche gestützt, die
Schwangerschaftsunterbrechungen jahrhundertelang stillschweigend tolerierte. Nach mittelalterlichem
Kirchenglauben bekam ein männlicher Fötus erst am 40. Tag nach der Zeugung eine Seele, der
weibliche gar erst am 80. Tag. ERst seit 1869, als Papst Pius IX. Schwangerschaftsunterbrechungen
verdammte, gilt für den Klerus wie in frühchristlicher Zeit Abtreibung vom ersten Tag der
Schwangerschaft als Mord.
Als sich im herbst 1969 in Bonn die sozial-liberale Koalition etablierte, schien sich eine Liberalisierung
des Abtreibungsgesetzes anzubahnen. Der Parlamentarisch-Politische Pressedienst der SPD deutete am
13. Juli 1970 an: "Möglicherweise wird man bis zum dritten Schwangerschaftsmonat die
Abtreibung in Kliniken bei voller Kostenübernahme durch die Krankenkassen erlauben, vorausgesetzt,
daß sie ärztlicherseits befürwortet wird."
Prompt ereiferte sich das katholische "Passauer Bistumsblatt": "Minister Jahn will Mord legalisieren."
Und auch von 12.000 Lesern des Boulevardblattes "neue bildpost" wurde der Minister auf
vorgedruckten Coupons gemahnt, "weder jetzt noch später eine Lockerung des Paragraphen 218
anzustreben".
Die Kampagne scheint in Bonn nicht ohne Wirkung geblieben zu sein. Jahns Ministerium läßt auf
hektografierten Rundschreiben neuerdings erklären, es sei "keineswegs geplant, die
Schwangerschaftsunterbrechung bis zum 3. Monat freizugeben".
Dabei ist der umstrittene Paragraph selbst Juristen nicht mehr heilig. Der Juristinnen-Bund wies
darauf hin, der Paragraph entspräche "nicht mehr dem Rechtsbewußtsein weiter Kreise der
Bevölkerung". Und obwohl Abtreibung von der Staatsanwaltschaft ohne besonderen Antrag zu verfolgen
ist, verspüren die Justizbehörden nur wenig Lust, gegen abtreibende Frauen vorzugehen.
Von einer Million Abtreibungen kamen 1969 nur 276 vor den Richter. Das droht nun anders zu werden.
Den Staatsanwaltschaften wird nichts anderes übrigbleiben, als gegen alle Frauen, die sich
öffentlich der Abtreibung beschuldigen, zu ermitteln. 374 waren es bei Redaktionsschluß dieses
Heftes. Es sieht so aus, als wären es bald Tausende.
Der Regierung in Bonn bliebe dann nur eines, um einen vorzeitigen Verschleiß deutscher
Staatsanwälte zu verhindern: Streichung des Paragraphen 218.
Was werden die Staatsanwälte tun?
Was werden sie tun, wenn sie diese Selbstanzeige von 374 Frauen lesen? Das Gesetz zwingt sie, von
Amts wegen Anklage zu erheben. Aber glauben die Juristen selbst an dieses Gesetz? Die Antworten, die
der STERN erhielt, offenbaren die ganze Hilflosigkeit der Justiz.
Der Justizminister eines Bundeslandes - ermöchte nicht genannt werden, und wir erfüllen ihm
seinen Wunsch - zieht sich aus der Klemme: "Ich werde den Teufel tun, mich auf eine solche Frage einzulassen.
Sage ich, wir werden gegen die Frauen Anklage erheben, dann verliere ich einen großen Teil
von meinen Wählern, vor allem Frauen. Sage ich, daß wir nicht reagieren, dann steht der
ganze vermuffte Justisapparat gegen mich auf. Bitte lassen Sie mich aus der Sache heraus und nennen
Sie meinen Namen nicht."
Oberstaatsanwalt Dr. Linke, Celle: "Wenn uns aud der Presse strafbare Handlungen bekannt werden,
sind wir gezwungen, dem nachzugehen. Das hat nichts damit zu tun, ob wir den Paragraphen 218 für
zeitgemäß halten. Solange diese Handlung mit Strafe bedroht ist, müssen die
Staatsanwaltschaften sich danach richten. Ich würde an Ihrer Stelle vorsichtig sein mit solchen
Veröffentlichungen."
Oberstaatsanwalt Beck, Hamburg: "Natürlich müssen wir die Strafverfolgung einleiten.
Wir sind gezwungen, uns so lange an ein Gesetz zu halten, wie es gilt. Das ist ein Prinzip des
Rechtsstaates. Wenn uns eine strafbare Handlung gegen den Paragraphen 218 bekannt wird und wir
verfolgen sie nicht, begehen wir eine Begünstigung im Amt und können selbst bestraft werden.
Wir können auch nicht so tun, als läsen wir den STERN nicht. Außerdem haben wir todsicher
drei Tage nach dem Erscheinen des Berichts die ersten Strafanzeigen gegen diese Frauen von weltanschaulich
gebundenen Leuten oder solchen Vereinigungen wie dem Volkswartbund auf dem Tisch. Muß
das sein, daß Sie die vollen Namen und Adressen veröffentlichen?"
Ein Generalstaatsanwalt, der ebenfalls nicht genannt werden möchte: "Also wissen Sie,
wenn ich den STERN mit dieser Veröffentlichung in einem Café lese, dann blättere
ich lieber schnell darüber hinweg. Aber wenn mir die Veröffentlichung als dienstlicher
Vorgang auf den Tisch kommt, dann kann ich kein Auge zudrücken, dann muß ich ermittlen.
Vielleicht würde ich zuerst feststellen lassen, ob die Sache nicht längst verjährt ist.
Und dann würde ich die Frauen fragen, ob sie auch wirklich die Wahrheit gesagt haben, schwindeln
ist ja nicht strafbar."
Das Delikt der Abtreibung verjährt in der Bundesrepublik nach fünf Jahren. Die jüngsten der
374 Frauen, die sich selbst anzeigten, um die Justiz herauszufordern, sind heute 20 Jahre alt.
Verjährung scheidet also aus.
Im Original Stern-Bericht vom 02.06.1971 wurde nun eine Liste von 374 Frauen angefügt, die
unterschrieben, daß sie abgetrieben haben.
35 gaben als Berufsbezeichnung Hausfrau an.
Was ich persönlich an diesen Frauen bewundere, ist nicht die Tatsache, daß sie abgetrieben
haben, sondern sich trotz Strafandrohung selbst bezichtigten, um einen unsinnigen Paragraphen zu
kippen, der keine Abtreibungen verhinderte, sondern die Frauen nur in die Heimlichkeit zwang.
Mich würde sehr interessieren, wie es nach der Veröffentlichung des Artikels weiterging.
Dem Stern möchte ich für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieses
Artikels danken