Neues vom Stammtisch

röhr

Horror auf der Moby Dick

Zu meinem 40sten Geburtstag, der nun schon genug beschrieben ist bekam ich von einem sogenannten "Freund" eine Musikfahrt geschenkt.
Genauer: 
"Musikfahrt - songs of yesterday"
"songs of yesterday" extra klein, weil: der Engländer an sich kennt ja keine Großschreibung.
Der Text alleine ist schon einen kleinen Schauer wert:

--- Auf Walfisch "Moby Dick" erleben Sie eine fröhliche Rheinfahrt.
Es unterhält Sie unsere Bordband mit Schlagern von gestern. ---
(Es war mit Absicht die alte Rechtschreibung gewählt, denn das Zielpublikum ist weit über 70.)

*** Vorgeschichte ***
Der geneigte Leser sollte wissen, ich bin als Jugendlicher in den 70ern ungern in Schlaghosen rumgelaufen, ich fand lange Haare bei Männern schon immer albern und erst als Punk fühlte ich mich zum ersten Mal von einem Songtext und einer Melodie angesprochen.
Schlager hasse ich nicht nur, ich stehe den Leuten, die Schlager mögen, äußerst (hm, wie sage ich es höflich?) nun ja, intolerant gegenüber. Den Schlager als deutsches Liedgut kann ich nur ertragen, wenn mein Alkoholspiegel über 2,3 ist, aber leider trinke ich nicht, oder wenn Guildo Horn singt.
Um es vorwegzunehmen: Guildo Horn hat nicht gesungen.
Heute stehe ich sowohl auf House und Rapmusik als auch auf Livekonzerte der klassischen Art.
Warum schenkt mir Rolf also ein solchenes Geschenk? Hat ihm etwa das Rocker-Stirnband zu seinem letzten Geburtstag nicht gefallen? Ich hatte ihm extra eines mit "BORN TO BE WILD" drauf geschenkt. Extra groß, weil: Rocker kümmern sich nicht um Kleinschreibung. All meine anderen Geschenke waren von ähnlicher Sinn- und Qualitätsklasse. Daran konnte es also nicht gelegen haben.

*** Hauptgeschichte ***
Anyway, ich versuchte den positiven Aspekt der Geschichte zu sehen (welchen eigentlich???) und lud einfach wahllos Freunde, Bekannte, Verwandte und sonstiges Volk ein mitzufahren und hoffte auf zahlreiches Echo.
Von den 2 Leuten, die Interesse heuchelten, sagten exakt 2 wieder ab, als sie einen ausreichenden Grund fanden. Der eine wollte sich an genau diesem Tag angeblich scheiden lassen und die andere bekam angeblich Besuch aus dem Ausland - HA! Schöne Freunde! Direkt aus dem Adressbuch gelöscht, die feigen Verräter.
Tapfer und mit Tränen im Auge, Heidi stützt mich (was würde ich nur ohne sie machen? Meine letzte Stütze im Alter), fanden wir uns am Steg ein. Rolf (mit Familie) wartet schon, meine letzte Hoffnung: "Rolfs Magengeschwür platzt auf, seine Frau mit plötzlichem Streukrebs im Koma oder der Sohn hat ein wichtiges Fußballspiel" zerplatzt genauso wie die Hoffnung auf Benzinpreise wie 1968.

Der alte Kahn (in Fachkreisen auch "Seelenverkäufer" genannt) erstrahlt im Glanz einer 3 Jahre neuen Lackierung wie ein ... ein ... nun ja, wie ein Kahn mit einer neuen Lackierung nach 3 Jahren halt aussieht - wie ein gestrandeter Wal. Das habe ich noch gar nicht erwähnt: der Kahn sieht aus wie ein Wal. Am Heck eine Flosse (sagt man Fluke?) und am Bug die Fenster in Zahnform (dabei hat ein Wal gar keine ...) Egal. Der Pott schwankt und knarrt, aber der quadratschädelige Mensch am Eingang heißt uns willkommen. Die Tatsache, dass er lesen kann, erkennt man daran, dass er eine Liste in der Hand hält, von der die Gäste abgelesen werden. Heimlich danke ich dem HERRN, dass dieser Mensch nur Türsteher ist. Zu mehr hätte es wohl kaum gereicht.
Nun denn, der Tisch ist reserviert, Getränke finden nach kaum 2-maliger Erinnerung unseren Tisch, der dem Untergang geweihte Haufen Schrott legt ab. Kaum merklich krallen sich meine Fingernägel ins Polster der Bänke. Das Polster zerreißt augenblicklich und meine Hände krallen sich in Heidis Oberschenkel. Die zerreißen nicht so schnell.
DA!
Die Musik fängt an! Sagte ich Musik? Uuups! Sorry, das ist nicht ganz richtig. Es handelt sich nicht direkt um Musik. Das, was dieser einzelne Herr dort an der Hammondorgel mit Rhythmusmaschine zustandebringt, ist eine Parodie von Roger Whittacker (oder Witthacker?). Zum Glück traut der Alleinunterhalter sich nicht zu singen. Als rein instrumentale Version könnte man sich denken, man wäre in einem Kaufhallenmusikberieselungsexperiment der 70er Jahre und heute ist der Tag, an dem bewiesen wird, dass nicht durch JEDE Art von Musik die Käufergunst steigt.
Moment, ich zerre den Zeitungsausschnitt hervor, dieser elende Tastenquäler soll darstellen: "unsere Bordband".
Ich verstehe, diese traurige Musikerexistenz, die sich zu schade ist, Sozialhilfe zu beziehen (sehr zu meinem Leidwesen), dieser einzelne Strassenmusikerverschnitt-in-schlecht ist: "unsere Bordband".
Ja, es ist wahr.
Im Gespräch finden Rolf und ich heraus, dass das von Vorteil ist: Einer macht weniger Lärm als mehrere. 

Das Publikum besteht aus Menschen, die es vor dem endgültigen Hinwenden zum Anus Praeter noch ein Mal so richtig krachen lassen wollen. Rüstige Halbtote lassen auf der Tanzfläche die Sau fliegen, da kommt so mancher 20jährige mit dem Lachen kaum nach.
Es reicht. Ich mache den üblichen Bordrundgang. Oben auf dem Promenadendeck ist es frisch. Die Sonne hat kaum noch Kraft, es bläst eine ordentliche Brise, und - das Beste: man hört die Musik nicht!
Ich will gerade das Deck kieend mit meinen Küssen übersäen, um dem HERRN für so viel Glück zu danken, da sehe ich es. Leicht vorn übergebeugt mit offenem Mund wie ein 80jähriger erstarre ich und will es nicht glauben. Der Türsteher von eben fährt diesen Kahn. Wieder einmal staune ich über die Fähigkeit mancher Menschen, die eine offensichtliche Korrelation ihrer Schuhgröße und ihres IQs haben, einen Führerschein oder ein Kapitänspatent zu erlangen. Dieses Exemplar verfügte über mindestens ein Kapitänspatent. Der HERR konnte mir jetzt erst mal gestohlen bleiben!
Schnell wieder aufgerichtet - und unauffällig in die Nähe einer Rettungsinsel geschlendert. Dort war ich nach einer Viertelstunde so durchgefroren, dass es mich wieder ins Innere, in die Hölle der Schlager begab, um mich zu erwärmen. Der traurigste und unfähigste Alleinunterhalter der Welt mühte sich unermüdlich ab, die älteren Teilnehmer von seiner Musikalität zu überzeugen. Inzwischen - sowohl Alleinunterhalter, als auch Publikum hatten etwas getrunken - traute sich die Bordband zu singen.
Spontan musste ich wieder anfangen zu weinen. Ich war rettungslos verloren. Alkohol mag ich keinen, jedenfalls nicht so viel, wie nötig war und das Ufer war unerreichbar. Teuflische Kräfte haben die Rheinfahrt nur deswegen erfunden, damit man nicht entrinnen kann. Deswegen!
Die Sangeskünste der Bordband standen dem musikalischen Talent um kein Jota nach.
Ich schluchzte hemmungslos in mein Taschentuch.

*** Essenszeit! ***

Es gab 3 Hauptgerichte zur Auswahl:
Rehbraten "Mauritius" mit Semmelknödel und Erbsen/Möhrchen, das hört sich ja klasse an, nur mag ich keine Semmelknödel und Erbsen/Möhrchen.
Weiterhin gab's Hirschbraten "Victoria" mit Semmelknödel und Erbsen/Möhrchen und Wildschweinbraten "Hubertus" (ihr ahnt es schon?) mit Semmelknödel und Erbsen/Möhrchen ...
Als der Kellner eines der Hauptgerichte vorübertrug, war klar, dass sich der Schiffskoch zumindest mit der Namensgebung der Gerichte Mühe gegeben hatte. Das Wild sah aus, als hätte es sich ergeben, nicht als wäre es erlegt worden.
Ich bestellte Wiener Gulaschsuppe mit Brot. Immerhin war die warm.

Vier (4!!!) Stunden später erreichten wir blaulippig, zitternd und mit laufender Nase den Steg. Die Bordband hatte 5 Minuten vor dem Anlegemanöver aufgehört zu spielen, so dass wir in gesitteter Formation schreitend den Seelenverkäufer verließen. Äußerlich ruhig und bester Dinge stellte ich mir Rolf vor, wie er mein nächstes Geburtstagsgeschenk auspackt: eine Plastiksprengstoffbombe. Rolf deutete das Mona-Lisa-Lächeln vollkommen falsch und ärgerte sich, dass sein Geschenk nicht so ankam, wie er es erhoffte. Auch sein lässig dahingesagtes: "Das machen wir jetzt jedes Jahr", ließ mich ruhig bleiben. Zwischen zusammengepressten Zähnen quetschte ich ein "Klar, das war echt toll", hervor.
(In meiner Phantasie wurde er gerade von mittelalterlich aussehenden Typen, die verdächtig nach Käpt'n Türsteher aussahen, mit glühenden Zangen gequält.)
Wir wünschten uns noch einen schönen Tag (Jawohl, ich lüge Menschen, die vor kurzem noch meine Freunde waren, an!) und gingen anschließend (für immer) getrennte Wege.

 

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