Portrait

Simone de Beauvoir(1908 - 1986) Simone de Beauvoir

Mein wichtigstes Werk ist mein Leben
 


Kurzporträt von Dieter Wunderlich

Simone de Beauvoir wächst in der vom Standesdünkel vergifteten Welt des französischen Großbürgertums auf und geht in einem snobistischen Privatinstitut zur Schule. Sie bewundert ihren Vater wegen seiner Belesenheit und hält seine patriarchalische Art für normal - bis sie zwölf Jahre alt ist und er zu ihr sagt: Wie häßlich du bist! Nach diesem Schock vernachläßigt sie ihr Aussehen und setzt statt dessen alles daran, durch ihren Verstand aufzufallen. Sie lernt wie besessen, büffelt während des Essens Vokabeln und stellt detaillierte Zeitpläne auf, die sie krampfhaft einzuhalten versucht, um keine Minute ungenutzt verstreichen zu lassen.
Während des Studiums lernt sie den drei Jahre älteren Kommilitonen Jean-Paul Sartre kennen. Er und sie belegen 1929 bei der äußerst schwierigen staatlichen Ausleseprüfung für die Bewerber um eine Anstellung als Philosophielehrer die beiden besten Plätze. Bald darauf schließen sie einen Pakt und garantieren sich gegenseitig sexuelle Freiheit. Die Lügen und Täuschungen ihrer Eltern vor Augen, weigert sich Simone de Beauvoir, Ehefrau zu werden oder auch nur hausfrauliche Pflichten zu übernehmen; sie und Jean-Paul Sartre wohnen deshalb stets getrennt, und gewöhnlich essen sie in einem einfachen Restaurant.
Simone de Beauvoir befreundet sich mit einer Schülerin, und Sartre schlägt seiner Lebensgefährtin vor, in einem Trio neue Erfahrungen zu sammeln. Nach einiger Zeit besteht die Familie aus Sartre, Simone de Beauvoir, zwei jungen Frauen und einem jungen Mann.
Simone de Beauvoir fühlt sich durch ihre konservative Erziehung in die Heterosexualität gestoßen, aber sie rät den Frauen, sich nicht länger ausschließlich auf das Begehren der Männer hin konditionieren zu lassen.
Freiheit, Selbstbestimmung und Gleichberechtigung betrachten Sartre und Simone de Beauvoir als die Fundamente aller Werte. Sie gehen davon aus, daß der einzelne sich erst durch seine Handlungen definiert; es komme darauf an, sich zu entscheiden, ohne sich hinter Traditionen und Religionen, Doktrinen und Ideologien zu verstecken - auch wenn die Verdammung zur Freiheit Angst hervorrufe. Mein wichtigstes Werk ist mein Leben, sagt Simone de Beauvoir. Mit dieser Philosophie - dem Existentialismus - treffen sie den Nerv der Nachkriegszeit.
1949 publiziert Simone de Beauvoir Das andere Geschlecht. In dem Buch untersucht sie das Bild der Frau in der Biologie, in der Psychoanalyse und im historischen Materialismus, beschreibt die tatsächlichen Lebensbedingungen der Frau im Verlauf der Geschichte, setzt sich mit Mythen über das Wesen der Frau auseinander und beschäftigt sich mit aktuellen Frauenrollen, mit den Besonderheiten verschiedener Lebensphasen und der weiblichen Sexualität. Das Buch löst eine ebenso heftige wie kontroverse Diskussion aus. Auch die Frauenbewegung, die sich 1970 in Frankreich formiert, argumentiert mit Simone de Beauvoirs Thesen. Aber vom Feminismus läßt sich Simone de Beauvoir ebensowenig wie von anderen Bewegungen vereinnahmen.

Leseprobe
aus: Dieter Wunderlich, EigenSinnige Frauen. Zehn Porträts

Jean-Paul Sartre ißt reichlich, liebt Süßigkeiten, raucht, trinkt Unmengen Scotch und Rotwein, schluckt abwechselnd Barbiturate und Amphetamine. Da ist es nicht erstaunlich, daß er 1971 im Alter von sechsundsechzig Jahren zwei Gehirnschläge erleidet.
Auf dem rechten Auge ist er seit seiner frühen Kindheit nahezu blind, und nun verschlechtert sich die ohnehin eingeschränkte Sehkraft seines linken Auges so, daß er nur noch groß gedruckte Texte mit dem Vergrößerungsglas lesen kann und seine eigene Handschrift nicht mehr zu entziffern vermag.
Simone de Beauvoir findet ihn am Morgen des 19. März 1980 auf der Bettkante sitzend, nach Luft ringend. In der Klinik diagnostizieren die Ärzte ein Lungenödem, Leberzirrhose und Durchblutungsstörungen des Gehirns.
Am 15. April erhält Simone de Beauvoir einen Telefonanruf von Arlette: Jean-Paul Sartre ist tot.
Sylvie fährt sie ins Krankenhaus. Dort versammeln sich auch die Freunde des Schriftstellerpaares, um die Nacht im Sterbezimmer zu verbringen. Am anderen Morgen schlägt Simone de Beauvoir - durch Alkohol und Beruhigungstabletten fast besinnungslos - das über den Toten gebreitete Laken zurück und will sich zu ihm ins Bett legen. Das Pflegepersonal hält sie davon ab.
Bei der Beerdigung muß sich Simone de Beauvoir sogar am Grab auf einen Stuhl setzen, und an der Einäscherung vier Tage später vermag sie überhaupt nicht teilzunehmen.1
Als Claude Lanzmann und Sylvie nach der Feuerbestattung zu ihr kommen, sitzt sie mit hohem Fieber auf dem Fußboden und deliriert. Im Krankenhaus behandelt man sie einen Monat lang gegen Lungenentzündung, Leberzirrhose, Kreislaufbeschwerden und neurologische Ausfälle.
Wie auch in anderen Krisen - beim Tod ihrer Mutter und in ihrer Angst vor dem Alter - versucht sie, Jean-Paul Sartres Sterben durch Schreiben zu verarbeiten: Sie verfaßt einen Bericht über das letzte Jahrzehnt seines Lebens, der 1981 unter dem Titel Die Zeremonie des Abschieds veröffentlicht wird. Viele seiner Freunde lesen das Buch mit Abscheu und werfen der Autorin vor, ungeschönt über seine Inkontinenz und andere Funktionsstörungen nach den beiden Schlaganfällen berichtet zu haben. Simone de Beauvoir wundert sich darüber: "Sie können mit einer beliebigen Kombination von Menschen in jedem Schlafzimmer dieses Landes machen, was Sie wollen, aber wehe Sie erwähnen, daß jemand in die Hosen geschissen hat, weil er alt und krank war - ah, wie Sie da die Prüderie der Leute verletzen!" Simone de Beauvoir pflegt zwar keine Aufputsch- und Beruhigungsmittel zu nehmen, wie es Jean-Paul Sartre tat, trinkt aber bereits vor dem Mittagessen Wodka und nachmittags zwei, drei Gläser Scotch. Seit ihrem Zusammenbruch beim Tod Sartres fällt ihr das Gehen so schwer, daß sie kaum die paar Schritte zum Kühlschrank schafft, um die Whiskyflasche herauszunehmen. Damit bringt sie ihre Gäste in Verlegenheit: Sollen sie ihr helfen oder lieber so tun, als bemerkten sie nichts? ("… stand sie langsam vom Sofa auf und schlurfte gebückt in die Küche, um zwei Gläser zu holen, dann zum Kühlschrank hinüber, wo sie eine riesige Flasche Scotch aufbewahrte. Mir ist zum Weinen zumute, wenn ich so an sie zurückdenke…"2) Am 20. März 1986 klagt sie über Magenkrämpfe und wird deshalb in eine Klinik eingeliefert, wo man sie einige Tage später operiert und bis Anfang April auf der Intensivstation versorgt. Die Diagnose lautet ähnlich wie bei Jean-Paul Sartre: Lungenödem und Lungenentzündung als Folgen einer Leberzirrhose. Simone de Beauvoir stirbt am 14. April 1986 im Alter von achtundsiebzig Jahren - fast auf den Tag genau sechs Jahre nach Jean-Paul Sartre. Ihr wichtigstes Werk war ihr Leben. 1) In Frankreich ist es nicht unüblich, eine Leiche zuerst zu beerdigen, sie dann zu exhumieren und einzuäschern. 2) Margaret A. Simons: Simone de Beauvoir. S. 43 Literatur · Deidre Bair: Simone de Beauvoir. Eine Biographie. München 1990 · Simone de Beauvoirs Autobiographie umfaßt vier Bände: Tochter aus gutem Hause (1958), In den besten Jahren (1960), Der Lauf der Dinge (1963), Alles in allem (1972). · Simone de Beauvoir: Die Mandarins von Paris. Reinbek 1965 · Simone de Beauvoir: Das andere Geschlecht. Sitte und Sexus der Frau. Reinbek 1970 · Simone de Beauvoir: Das Alter. Reinbek 1977 · Simone de Beauvoir: Die Zeremonie des Abschieds. Reinbek 1983 · Simone de Beauvoir: Ein sanfter Tod. Reinbek 1984 · Simone de Beauvoir: Auge um Auge. Artikel zu Politik, Moral und Literatur 1945 - 1955. Eva Groepler (Hg.). Reinbek 1987 · Simone de Beauvoir: Amerika. Tag und Nacht. Reisetagebuch 1947. Reinbek 1988 · Simone de Beauvoir: Kriegstagebuch. September 1939 - Januar 1941. Reinbek 1994 · Claude Francis und Fernande Gontier: Simone de Beauvoir. Die Biographie. Weinheim / Berlin 1986 · Karl Heinz Götze und Ralph Quinke: Simone de Beauvoir. (Film 1997) · Axel Madsen: Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir. Die Geschichte einer ungewöhnlichen Liebe. Reinbek 1982 · Toril Moi: Simone de Beauvoir. Die Psychographie einer Intellektuellen. Frankfurt am Main 1997 · Josef Rattner: Simone de Beauvoir. In: Gerhard Danzer (Hg.): Frauen in der patriarchalischen Kultur. Literaturpsychologische Essays über Germaine de Staël, Rahel Varnhagen, Karen Horney und Simone de Beauvoir. Würzburg 1997 · Walter von Rossum: Simone de Beauvoir und Jean-Paul Sartre. Die Kunst der Nähe. Berlin 1998 · Alice Schwarzer: Simone de Beauvoir heute. Gespräche aus zehn Jahren. Reinbek 1983 · Margaret A. Simons: Simone de Beauvoir. In: Vera Eckstein (Hg.): Kultfrauen. Fünfzehn Begegnungen. Mannheim 1996 · Barbara Sommerhoff: Frauenbewegung. Reinbek 1995 · Christiane Zehl Romero: Simone de Beauvoir. Reinbek 1978 · Dieter Wunderlich: EigenSinnige Frauen. Zehn Porträts. Regensburg 1999 Mehr über dieses Buch: www.hausfrauenseite.de, und zwar in der "Schreibstube" unter "Bücher, die Deine Welt veränderten". © Dieter Wunderlich