Ich bin als drittes Kind und einzige Tochter nach zwei Jungen recht zufrieden aufgewachsen. Meine Brüder hatten aus unterschiedlichen Gründen so ihre Problemchen in der Kindheit und Jugend; ich hatte es als Nesthäkchen verhältnismäßig leicht und und hatte eine unbeschwerte Kindheit. Ich fand alles gut, so wie es war. Vielleicht war es auch deshalb immer meine Wunschvorstellung, mal drei Kinder zu haben. Und tatsächlich kam es auch so. Die Großen waren 6 und 3 Jahre alt, als unsere Kleinste am 5.11.2001 um 2.30 Uhr nachts auf die Welt kam, und sie ist natürlich wieder ganz anders als die anderen beiden Kinder, die sich auch schon stark unterscheiden. Schon die Geburten waren alle ganz unterschiedlich. Hatte ich am Schluss beim ersten Mal gepresst wie eine Wilde (und auch solche Geräusche von mir gegeben), glitt dieses Mal das Baby regelrecht aus mir heraus, die Urgewalt der Wehen ließ sich von mir selbst wohldosieren und steuern. Ich hatte die Hand am Kopf meines Kindes hätte ich mir vorher nie träumen lassen, dass ich das tun könnte! und dadurch, glaube ich, spürte ich genauer, was passierte und hatte auch keine Dammverletzungen. Unsere Tochter wirkte von der ersten Sekunde an zufrieden, freundlich und ausgeglichen, und das ist sie heute noch. Wir waren sehr glücklich, schon wieder ein gesundes Kind in den Armen halten zu können. Nach dem Kreißsaal gingen wir noch für ein paar Stunden in ein Vorwehenzimmer, nahmen dort noch das Frühstück ein und regelten die Formalitäten mit dem Krankenhaus und dem Standesamt. Wir hatten der Kleinen als Zweitnamen den Namen meiner Oma gegeben, die knapp zwei Wochen zuvor friedlich und schmerzfrei gestorben war. Diesen Namen hatten wir uns schon lange vorher für den Fall eines Mädchens ausgewählt, denn meine Oma trug schon länger immer weniger Leben in sich und wir konnten vermuten, dass der Zeitpunkt ihres Todes wohl ungefähr in den Zeitraum der Geburt fallen würde. Uns gefiel der Gedanke, sie durch ihren Namen ein bisschen weiterleben zu lassen, und natürlich gefiel uns der Name selbst auch. Gegen 11 Uhr morgens fuhren wir schon wieder heim. Mein Mann hatte seinen Teil der Familie schon vom Krankenhaus aus informiert; ich griff im Auto sofort zum Handy und rief meine Eltern und Brüder an. Das heißt, meinen älteren Bruder Günter konnte ich nicht direkt anrufen, da ich seine Geschäftsnummer nicht dabei hatte; also rief ich seine Frau zuhause an.Die beiden haben auch zwei kleine Kinder und wissen, wie euphorisch man sich nach einer glücklichen Geburt fühlen kann und dass man die Nachricht gerne schnell an seine Lieben loswerden will. Ich trug meiner Schwägerin auf, Günter in der Firma anzurufen und alles weiterzuerzählen, was sie nach ihrer Beglückwünschung woh auch gleich tat. Wir waren noch nicht lange zuhause angekommen, als Günter zurückrief und meinen Mann an der Strippe erwischte. Ich war wohl gerade am Stillen oder so, jedenfalls konnte ich nicht ans Telefon kommen. Er rief abends dann nochmal an, um mir persönlich gratulieren zu können. Ich dachte noch, wie goldig ich das fand und dass das ja nicht nötig gewesen wäre, dass er extra nochmal anrief. Er wollte mich auch nicht lange stören, eben nur seiner Mitfreude Ausdruck verleihen. Abschließend sagte er noch, er werde dann in den nächsten Tagen wieder anrufen, wenn sich alles beruhigt und eingependelt hätte. Er wusste, dass tags drauf unsere Mutter für eine Übernachtung zu mir fahren wollte, um die Kleine zu sehen, und hatte selbst am folgenden Tag eine Geschäftsreise anstehen. Da die großen Kinder bei meiner Schwiegermutter einquartiert waren und nur mal zu Besuch kamen, um ganz begeistert das neue Schwesterchen zu begrüßen, konnte ich mit meiner Mutter am nächsten Tag in Ruhe da sitzen bzw. liegen und klönen das war so richtig schön. Wir redeten ein bisschen über dies und jenes. Wir sehen uns selten zu zweit, meistens eher mit den Familien, und genießen diese Zeiten dann immer sehr. Im Nachhinein kommen mir diese Stunden paradiesisch vor, wie die perfekte Harmonie. Nicht lang vor der geplanten Heimfahrt meiner Mutter klingelte das Telefon und sie ging dran. Es war meine Schwägerin. Es war der 7.11.2001, mein drittes Kind war zwei Tage alt und mein Bruder Günter war in den frühen Morgenstunden im Bad seines Hotelzimmers tot zusammengebrochen. Ursache war sein Herz, mit dem er zwar schon Schwierigkeiten gehabt hatte, aber so etwas war niemals zu erwarten gewesen, schon gar nicht zu diesem Zeitpunkt, denn es ging ihm eigentlich besser denn je.Meiner Mutter schien es schier ein Stück ihres Herzens herauszureißen. Anscheinend nicht so viele. Bei mir klingelten die Hormone lauter als die Trauer dröhnen konnte. Natürlich weinte ich viel, war unendlich traurig, ungläubig, hauptsächlich vielleicht sogar einfach verständnislos. Wie kann so etwas sein? Bei einem 38jährigen, so lebensfrohen Familienvater? Und dann auch noch bei MEINEM Bruder? Und so unerwartet? ? Aber mein Neugeborenes war da, es war auf mich angewiesen, ich musste ja schließlich weiter funktionieren. Das Baby musste im Vordergrund stehen, sonst kann es ja schlicht nicht überleben, sagten mir meine Hormone. Ich verlor also nicht völlig die Fassung. Ich konnte im Kreis meiner Familie auf dem Sofa sitzen und stillen, während mir die Tränen über die Backen rollten, wie ein unaufhörlicher Strom, aber ich blieb noch recht ruhig dabei. Ich konnte dem Pfarrer bei der doppelten Urnenbeisetzung von Günter und unserer Oma zuhören und ihm ins Gesicht sehen, als er eine sehr ehrliche und berührende Predigt hielt, dabei auch meinen anderen Bruder und mich ansprach, und die Tränen rollten weiter, aber ich fühlte mich wieder eher ruhig. Ich konnte meinen Freunden und allen, denen ich es sagen wollte, von Günters Tod berichten, auch wenn ich dabei weinte. Ich versorgte meine Familie, so weit ich konnte, ließ mir auch dabei helfen, und hatte kaum Zeit für mich selbst. Höchstens unter der Dusche, wenn es mal ruhig war, wenn ich alleine war und die Gedanken anfingen zu wühlen, da hatte ich auch mal einen Weinkrampf und solche Dinge. Aber auch das nahm relativ schnell ab, nachdem die ersten krassen 10 Tage bis zur Trauerfeier vorüber waren. Und das war ein sehr unangenehmes Gefühl. Ich wollte doch trauern! Ich musste zuhause bei meiner eigenen Familie funktionieren und tat es auch. Daraus ergab sich ein weiteres Problem für mich: Meine Schwägerin hält sich ebenfalls stark an dem Gedanken fest, dass Günter ihr sozusagen als ihr persönlicher Engel zur Seite steht. Vor kurzem hatte wir Taufe und wählten einen Taufspruch, in dem es um den Schutz durch Gott und seine Engel geht. Denn Günter und meine Tochter sind auch für mich eng miteinander verbunden. Ich spreche immer wieder mit meinem Bruder und bitte ihn, auf meine Kleinste aufzupassen. Oft bete ich abends mit meinen beiden Großen, die sich das selbst immer einfordern, für Günter und meine Oma. Was ich da eigentlich genau beten kann, weiß ich aber selber nicht. Wir bitten dann den lieben Gott, im Himmel gut auf Günter und meine Oma aufzupassen und ihnen einen schönen Gruß auszurichten. Oft bin ich heimlich dabei bitter und denke mir, lieber Gott, ach hättest Du doch lieber schon hier unten besser auf ihn aufgepasst. Gibt es dich dann überhaupt? Und wenn doch, wofür überhaupt gibt es Dich dann? Meine Mutter hat, glaube ich, ihren Glauben mittlerweile gänzlich verloren. Ich frage mich manchmal, ob ich nun noch rein aus Gewohnheit glaube. Aber schließlich kommt ich dann immer wieder zur Überzeugung, dass mein Glauben eigentlich durch Günters Tod nicht beeinträchtigt worden ist, denn ich bringe seinen Tod gar nicht so sehr mit Gott in Verbindung. Vielleicht hatte ich dann ja auch im Vorneherein keinen echten Glauben. Ich habe keine Ahnung. Unsere kleine Tochter kam in den ersten Lebensmonaten schon ein bisschen zu kurz, wenn man sie mit ihren Geschwistern vergleicht und mit der Aufmerksamkeit, die sie hervorgerufen haben. Viele Freunde und Bekannte wussten nicht so recht, wie sie sich verhalten sollten. Sollte man anrufen oder vorbeikommen? Erst gratulieren, dann kondolieren, oder umgekehrt?Besser erst mal gar nichts tun? Letzteres war verständlicherweise für viele die Verlegenheitslösung. Uns hat das zwar nicht so richtig viel ausgemacht, denn es war halt alles verkorkst, aber ein bisschen schade ist es schon. Manchmal tut mir auch meine Oma leid. Ihr Tod ging ja fast unter in dem Aufruhr, denn ein Tod überschattete den anderen, wie der Pfarrer, übrigens so etwas wie ein Freund der Familie, treffend formulierte. Aber er hatte auch recht, als er darauf hinwies, dass der Tod dieser alten Dame in Ordnung ging, der von Günter hingegen nicht. Sowieso habe ich glücklicherweise nicht mehr diese fürchterliche Angst um sie. Ich hatte schon bei den anderen beiden die typischen irrationalen Ängste einer Mutter gehabt, sie könnten plötzlich tot im Bettchen liegen. Dieses Mal war es natürlich ganz schlimm. Ich hatte alle möglichen Horrorvisionen und hatte riesige Angst, es könne nun zu einer Art Todesserie in der Familie kommen. Mein Vater hatte auch solche Ängste. Nachdem wir es beide ausgesprochen hatten, ging es uns schon besser. Trotzdem denke ich oft daran. Was, wenn einem meiner Kinder etwas passierte? Würde ich völlig austicken? Mein Mann hat überlegt, ob die Geburt unserer Tochter deswegen so harmonisch und glatt abgelaufen ist, damit wir für das, was danach kam, noch genug Kraft haben würden. Es gibt für mich insgesamt immer noch zu wenig Situationen, in denen sein Fehlen so offensichtlich ist wie an Weihnachten oder bei der Taufe, denn ich will immer noch mehr trauern können, auch wenn ich mitterweile schon besser geworden bin. Andererseits habe ich auch große Angst vor diesen Situationen, speziell vor einem eigentlich wunderschönen Ort, an dem wir uns regelmäßig trafen und an dem ich seither nicht mehr war. Es wird dort nie wieder so sein wie früher, denn dieser Ort ist ganz besonders geprägt durch unsere familiären Zusammenkünfte dort. Natürlich will ich wieder hinfahren, aber oje, wenn ich nur daran denke... Mir tut es auch oft weh, wenn ich Geschwister beobachte, vor allem ältere Menschen mit ihren Brüdern. Es erinnert einfach daran, dass ich einen Bruder verloren habe und dass wir uns eben nicht mehr treffen und über dies und jenes Familienerlebnis erzählen und lachen können. Immerhin habe ich jetzt mal alles aufgeschrieben. Nachtrag Der Tod meines Bruders jährt sich nun zum ersten Mal, und meine Kleine wird ein Jahr alt.Der Herbst ist wieder da, und obwohl ich diese Jahreszeit sehr mag, ist sie dieses Mal in so manchen Momenten wieder beklemmend. Aber ich hatte auch nichts anderes erwartet und denke, so wird es nun jedes Jahr sein, vielleicht nicht immer gleichbleibend heftig, aber die Gedanken werden in diesen Tagen des Spätjahres immer um das kreisen, was letztes Jahr passiert ist.
Ich möchte noch von einem Traum berichten, den ich vor ein paar Monaten geträumt habe, kurz nachdem ich diesen Bericht für mich und auch für andere geschrieben hatte.
Ich war, nachdem ich mich wieder gefangen hatte, fast sauer auf Günter. Warum hatte er mich denn nun so reingelegt? Günter wollte mir wahrscheinlich nur sagen, dass er sehr wohl noch da ist. Nicht da, wo ich und alle anderen Betroffenen ihn gerne hätten. Auch nicht in der Form, in der wir ihn gerne sehen würden, sondern irgendwie anders, wer weiß wie. Aber das Wichtige war doch, dass er mir mitgeteilt hatte, wir können und sollten weiter miteinander kommunizieren.
Ich war verblüfft ob dieser Interpretation. Aber sie ergab sofort einen Sinn für mich. Das tut sehr gut. Ich konnte leider nicht mit allen den Kontakt halten, die mir dennoch in einer Art und Weise geschrieben haben, dass ich am liebsten den Kontakt gehalten HÄTTE. Lebenstanz Durch Herbstsonnegoldgelb getünchtes Blatt laß Dich los, laß Dich fallen ! Gib Dich hin |
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