Würde er noch leben, wäre mein Vater gerade hundert Jahre alt geworden. Er ist
aber vor etwas mehr als dreizehn Jahren gestorben. Immer noch passiert es mir,
dass ich bei irgend einem Gartenproblem zuerst denke: "Ich muss Paps fragen." Dumm, was? Wenn ich die prägnanteste Eigenschaft unseres Vaters nennen müsste, wäre es
"Eigensinn". Ja, er war eigensinnig. Wenn ihm etwas nicht passte, war einer
seiner Lieblingssprüche: "Ich sag gar nix, und das darf ich wohl noch sagen."
Und "hebig" war er. Nein, nicht geizig, "hebig" eben. Es gibt im Schriftdeutschen
wohl kein zutreffendes Wort, denn "knauserig" ist auch nicht richtig. Er war
halt vorsichtig im Umgang mit dem hart verdienten Geld. Hart verdienen mussten
es sich meine Eltern als Gemüsehändler und Gemüsebauern. Dennoch, unser Vater war
ein lebenslustiger Mann. Er hatte einen trockenen Humor und freute sich über jede
Kleinigkeit, ob das nun ein besonders schön gefärbtes Herbstblatt oder ein guter
Geschäftstag war. Selten lachte er lauthals, er schmunzelte meistens oder lachte
still in sich hinein, bis ihm die Tränen kamen. Für Leute, die ihn nicht kannten,
war das sehr irritierend.
Oh doch. Vater und ich hatten manchmal Krach. Und wie! Ich bekam keinen Dufflecoat (Kartoffelsack mit Holzknebeln!) Jeans kamen überhaupt nicht in Frage. Dabei hatten Conny Froboess und Peter Kraus doch so schöne Jeans an. Ganz besonders krachte es aber, als ich die Handelsschule verlassen wollte, um eine Lehre als Grafikerin anzufangen. Ich musste die Schule beenden. Dann hätte ich Grafikerin werden können, aber da war die Gelegenheit vorbei. Vom heutigen Standpunkt aus gesehen weiss ich nicht, ob es gut oder nicht gut war. Ich habe meinen Weg gemacht. Ein gewisses Quäntchen an Eigensinn habe ich geerbt. Wenn ich also nur das gelernt hatte, musste ich es so gut wie irgend möglich ausüben. Mich weiter bilden, Erfahrungen sammeln, um daraus zu lernen, eigene Entscheidungen treffen, niemand nahm mir das später ab. Vater war, wenn es darauf ankam, genau so eitel wie Mutter. Seine Anzüge waren immer geschneidert. Zum Anzug trug er stets einen Hut. Für Schuhe gab er viel Geld aus, denn die Füsse müssen einen durch das Leben tragen, da muss man gut zu ihnen sein. Für ein Paar Sandalen musste ich kämpfen und den Umweg über Mutter nehmen, für "angebundene Schuhsohlen" war ihm das Geld zu schade. Er konnte für eine Kleinigkeit viele Male an einem Geschäft vorbeigehen, um zu überlegen, ob es denn nun wirklich notwendig sei, dass er sich die Sache anschaffe. Das habe ich auch von ihm geerbt. Es macht mir nichts aus, drei-, viermal im Einkaufszentrum vor dem gleichen Artikel zu stehen und zu überlegen, ob es denn nun sein müsse. Meistens komme ich dann zum Schlusse, dass, wenn ich schon so lange überlegen müsse, es die Ausgabe nicht Wert sei. Dinge aber, die auf der Einkaufsliste stehen, werden auch gekauft. So preiswert wie möglich, aber nicht so billig wie möglich.Ich habe erwähnt, Vater sei eigensinnig gewesen. Mit einem trockenen Humor. Ich glaube sogar, dass er das bis hin zu seinem Tode beibehielt. Ich bin fest davon überzeugt, dass er, wenn es doch nun sein musste, absichtlich dann starb, als es eisig kalt war. Wir erfroren beinahe, als wir hinter dem Sarg hergingen über den zugigen Friedhof. Noch heute bin ich mir sicher, dass Paps sich im Sarg ins Fäustchen lachte über den gelungenen Streich. Der Pfarrer, den ich schon zu meinen Mädchenzeiten kannte (und der mich gut genug kannte) lachte nur, als ich es laut heraussagte, das mit dem absichtlich in einer Kälteperiode zu sterben. Meine Geschwister waren empört.(Meine Geschwister, vor allem der ältere Bruder, sind und waren dauernd über etwas an mir empört.) Mama hat es nicht registriert. Sie nahm Abschied von ihrem Ehemann, mit dem sie mehr als fünfzig Jahre verheiratet war. Als sie die Hand voll Erde auf seinen Sarg warf, flüsterte sie: "Warte auf mich, Anton. Ich komme bald nach." Und so war es. Nicht einmal drei Monate später beerdigten wir unsere Mutter. Alles hatten sie in ihrem langen Eheleben gemeinsam getan. Warum sollten sie also nicht gemeinsam sterben? Ich denke oft an meinen Vater. Wir haben dreihundert Apfelbäume gepflanzt. Wir sind morgens um vier Uhr mit dem Lastwagen "aufs Feld" gefahren, um Gemüse abzuholen. Anschliessend ging ich dann zur Schule. Meine Fahrstunden habe ich auf unserem Opel Blitz absolviert. Auf diesen gemeinsamen Morgenfahrten hat mir Vater erklärt, was ein "Puff" ist, warum man die Frauen da nicht verachten sollte. Er klärte mich im Rahmen des damals Üblichen auf. (Mit Mutter konnte ich darüber nicht sprechen, sie war für mich nicht die richtige Anlaufstelle, sie war für die Lösung anderer Probleme zuständig.) Papa erklärte mir, wie ein Motor funktioniert, welche Bäume am Strassenrand wuchsen, wie der Wirt in jener oder jener Beiz oder der Direktor der Fabrik an der Strasse hiessen .... Mit ihm ging ich all die Jahre, von klein auf, in den Gemüsegarten. Auch im Winter, wenn er erst eine Stelle festtreten musste, damit er mich dort im hohen Schnee abstellen konnte. Oder Jahre später, wenn wir bei Vollmond Rhabarber ernteten. Nicht, weil Vollmond war, sondern weil es dann noch hell genug war für die Arbeit. Er hat mich aufgefordert, die Rhabarberstängel laut auf französisch oder englisch zu zählen, damit ich dabei etwas lernte. Da er, und auch Mutter, während des ersten Weltkrieges in Deutschland zur Schule gegangen waren, war diese Schulzeit nur kurz und die Schulstunden fanden nicht immer statt. Also achtete er peinlichst darauf, dass wir unsere Schulpflicht ernst nahmen. Dumme Leute dürfe man nicht verachten, sagte er immer. Denn das, was dumm ist, sei nicht festgelegt. Aber ungebildete Leute, die die Möglichkeit zur Bildung gehabt hätten, die wären nach seiner Auffassung wohl verachtenswert. Mit Politik hatte er nicht viel am Hut. Charles de Gaulles jedoch fand er richtig gut und bewundernswert. Ganz besonders, weil der ohne Manuskript in einer Fremdsprache eine Rede halten konnte. Wo doch andere sogenannte Staatsmänner trotz Manuskript in ihrer eigenen Muttersprache herumstotterten.Hundert Jahre alt wäre er im August geworden. Sein Herz hat es nicht so lange geschafft. Das organische Herz. Das andere, das lebt weiter. Bei mir Verena am 21.09.04 |
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